Zwei recht bekannte Erzählungen hören wir am morgigen Sonntag im Evangelium. Die eine handelt von der schwerkranken Tochter des Synagogenvorstehers Jaïrus. Die andere von einer Frau, die an fortdauernden Blutungen leidet. Der Evangelist Markus verbindet beide Geschichten unter anderem durch die Verwendung der Zahl zwölf - die Zahl, die auf Abschließendes, Vollständiges hindeutet. Zwölf Jahre ist das Mädchen alt und zwölf Jahre leidet die Frau. Beides sind Tragödien. Auf der einen Seite die schwere Krankheit der Tochter, die zum Tod führt, auf der anderen Seite der Blutfluss, der den sozialen Tod bedeutet. Denn die Folgen sind Verzicht auf Sexualleben, ja auf Partnerschaft, Ausschluss aus den Gottesdiensten und Isolation. Beide Male wird Rettung inständig ersehnt. Und beide Male geht es um Frauen, deren Lebensmöglichkeiten eingeschränkt sind beziehungsweise die dabei sind, ihr Leben ganz zu verlieren.
Die „blutflüssige“ Frau nähert sich verschämt Jesu an, nahezu unbemerkt in der Menge und von hinten. Sie ist Scham wegen ihrer Blutungen gewohnt. Nur Jesu Bekleidung berührt sie. Doch Jesus genügt das. Er rettet, er heilt sie und er stellt sie nicht bloß. Er spricht sie als Tochter an - gemeint ist als Tochter des himmlischen Vaters. Denn sie hat nicht aufgehört auf die heilende Nähe Gottes zu vertrauen. Diese Heilung ist weit mehr als ein bloß körperlicher Vorgang. Sie gibt der Frau ihre Würde zurück. Sie eröffnet ihr die Möglichkeit, selbstbewusst und selbstbestimmt zu leben.
Unwillkürlich denkt man an die von Missbrauch betroffenen Mädchen und Jungen im kirchlichen Umfeld. Einen größeren Gegensatz zum Handeln Jesu in der zitierten Bibelstelle kann man sich nicht vorstellen. Missbrauchstäter entwürdigen ihre Opfer. Jesus gibt Würde zurück. Missbrauchstäter lassen ihre Opfer mit ihrer Scham zurück. Jesus befreit die Frau von ihrer Scham. Missbrauchstäter sind im Gegensatz zu Jesus respektlos. Zurück bleiben beim Missbrauch Überlebende mit ihrer Scham, während die Täter unverschämt mit Vergebung rechnen.
Zur zweiten Erzählung, die von einem schwer kranken Mädchen handelt, das schließlich augenscheinlich stirbt. Jesus führt sie mit dem im aramäischen Original zitierten Wort „Talita kum“ ins Leben zurück.
Es ist aufschlussreich mit welchen Worten das Mädchen bzw. die Frau bezeichnet wird. Für den Vater ist sie „mein Töchterchen“, später wird sie „Kind“ genannt. Jesus spricht sie dagegen bei ihrer Heilung als „Junge Frau“ an. Das aramäische Wort „Talita“ muss nämlich korrekt als „Junge Frau“ übersetzt werden. „Talita kum“ bedeutet also „Junge Frau, steh auf“. Jesus sieht in ihr also nicht mehr das Kind sondern die mündige Frau. Der Ruf Jesu ist noch aus einem zweiten Grund aufschlussreich. Denn Jesus sagt nicht, die junge Frau soll die Augen öffnen oder zu atmen beginnen. Nein, er sagt, sie soll aufstehen. Damit ist viel mehr als der bloße physikalische Vorgang gemeint. Aufstehen bedeutet: Sie soll ihr Leben in die Hand nehmen, sie soll liebend, glaubend und hoffend ihren beginnenden Lebensweg als erwachsene Frau beschreiten. Auch hier geht es Jesus um die Würde der Frau und um ihre Befreiung zu selbstbewusstem und selbstbestimmtem Handeln.
Die Verschränkung der beiden Erzählungen durch den Evangelisten ergibt also einen guten Sinn: es geht beide Male um die Befreiung einer Frau. Sie werden, was sie sind: Töchter Gottes und Schwestern Jesu. Ihre Sehnsucht ist die Sehnsucht aller Ausgegrenzten: “I wish I knew how it would feel to be free. I wish I could break all the chains holdin' me.“ heißt es in einem Lied der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Frei übersetzt: „Ich möchte so gerne wissen, wie es sich anfühlt, frei zu sein. Ich wünschte, ich könnte alle Ketten brechen, die mich halten.“
(Sebastian Nüßl)
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