Wir werden geradezu von Liebe überschüttet in den Texten des morgigen Sonntags. 19-mal kommt im Johannesevangelium und in der Lesung aus dem 1. Johannesbrief zusammengenommen das Wort „Liebe“ vor. Es gibt ja für uns Christen tatsächlich nichts größeres, denn Gott ist die Liebe. Aber auch bei nicht religiösen Menschen wird die Liebe gerne in den Himmel gehoben. Der Weg der Liebe, so scheint es, führt geradewegs in den Himmel hinein.
Gott selbst geht genau den umgekehrten Weg. Nicht in himmlische Höhen, sondern herab zur Erde. Sein Weg der Liebe führt zu den Menschen. Er wird Mensch. Nicht abgehoben, nicht von oben herab, nicht mit Absolutheitsanspruch, sondern ganz konkret: Mit dieser Mutter und diesem Vater, mit mehr oder weniger freundlichen Nachbarn im Dorf, mit mehr oder weniger nervigen Arbeitskollegen, in einem bestimmten Volk, mit einer bestimmten Sprache, in einer bestimmten Zeit, in eine bestimmte geschichtliche Situation. In seiner Liebe ist er als Mensch nicht für alle und jeden da, sondern gerade für die, die ihm begegnen und mit denen er geht.
Jesus zeigt uns, wie Liebe unter Menschen nur sein kann, wenn sie wirklich Liebe ist: Relativ! Das heißt genau zu diesen Menschen, in dieser Zeit, an diesem Ort. Das muss niemanden ausschließen. Jesus hat es auch nicht getan. Aber das schärft unseren liebenden Blick. Für diese eine Mutter, meine Mutter - am morgigen Muttertag. Für diese Freunde, Partner, für diesen einen, dem wir da begegnen und der uns eigentlich unsympathisch ist und der doch unsere Liebe braucht. Solidarität mit allen Menschen in Not weltweit ist unser christlicher Auftrag. Er darf aber nicht den Blick trüben auf die Menschen, die ganz konkret unser liebendes Gegenüber sind.
Der Weg Gottes auf Erden, der sich in Jesus zeigt, ist immer ein Weg ins Konkrete, ins Relative. Jesus blickt auf die Menschen, mit denen er zusammen ist und predigt für sie. Er bringt nichts zu Papier, lässt keine Weisheitsbücher schreiben - er spricht zu den Menschen und will sie bewegen. Jesus Botschaft ist von einer überzeugenden Bescheidenheit: hinein in eine bestimmte Zeit, zu bestimmten Menschen, ganz und gar relativ. Wenn wir sehen, mit welchem Absolutheitsanspruch heute manche Bischöfe und Theologen argumentieren, zeigt dies das eigentliche Problem unserer heutigen Kirche. Es ist die Unfähigkeit zur Relativität. Meinungen werden allzu gerne mit einem Absolutheitsanspruch vertreten. Die Unfähigkeit zur Relativität beschränkt sich aber nicht auf die Kirche. Sie vergiftet gerade unser gesamtes gesellschaftliches Leben. Die Coronakrise treibt es auf die Spitze. Da behaupten sogenannte Querdenker in penetranter Borniertheit im Besitz der Wahrheit zu sein. Auf der anderen Seite darf Wissenschaft die Relativität ihrer Erkenntnisse natürlich auch niemals verschleiern.
Wir brauchen den Mut Gottes, uns von jedem Absolutheitsdenken zu verabschieden und die Relativität unseres Lebens und Liebens anzunehmen. Wir brauchen den Mut Gottes zur Bescheidenheit.
Sebastian Nüßl, Diakon
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