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Das Wunder Mitleid - zum 18. Sonntag im Jahreskreis A - Diakon Sebastian Nüßl

Für sein Mitleid bekannt war St. Martin, der Namenspatron unserer Kirche. Martin sah einen frierenden Bettler und teilte seinen Mantel mit ihm. (Fensterausschnitt St. Martin)

Die Anthropologin Margaret Mead (1901-1978) wurde einmal gefragt, wann die menschliche Zivilisation begann - wann also der Mensch wirklich zum Menschen wurde. Ihre Antwort klingt auf den ersten Blick verblüffend: Mit dem ersten nach einem Bruch wieder zusammengeheilten Oberschenkelknochen. Die Begründung liegt aber auf der Hand: wenn ein so wichtiger Knochen brach, bedeutete das den Tod. Die Zeit für die Heilung war nicht da. Die Nahrungssuche wurde unmöglich. Raubtiere lauerten. Wenn aber Heilung möglich war, gab es jemand, der den Kranken beschützt hat, der seine Wunde gepflegt hat, der ihm Nahrung brachte. Da war jemand, der hatte Mitleid. Mit Mitleid also beginnt das Mensch-Sein.

Wenn man von Jesus eines sagen kann, dann: Er hatte Mitleid. Im Evangelium von morgigen Sonntag lesen wir das wörtlich. Diese Stelle aus dem Matthäus-Evangelium zeigt uns am Beispiel Jesu auch, wie Mitleid funktioniert.

Das erste ist: hinsehen. „Jesus sah die vielen Menschen“ hören wir im Evangelium. Jesus war ein Meister im Hinsehen. Er sieht die, die hinten stehen wie den kleinen Zachäus hinter der Menschenmenge. Er sieht die Kranken und Aussätzigen, die sich isolieren und verstecken. Er sieht die Frauen, auf die sonst niemand schaut und mit denen kein anständiger Jude reden würde. Die Frau am Jakobsbrunnen ist so ein Beispiel. Das erste also: Mitleid bedeutet unvoreingenommen, offen und genau hinzuschauen, die Not und die Angst der anderen, aber natürlich auch ihre Hoffnungen und ihre Freude wahrzunehmen.

Das zweite ist: handeln. Denn Mitleid braucht das Handeln. Wenn Mitleid ein bloßes Gefühl bleibt, ist es meist falsch und immer unglaubwürdig. Es läuft ins Leere. Jesus handelt. Wir lesen im Sonntagsevangelium, dass er „ihre Kranken“ heilt. Und als er die hungernde Menge sieht, kümmert er sich um das Essen. Interessant ist, wie das geschieht. Zunächst appelliert er an seine Jünger: „Gebt ihr ihnen zu essen“. Genau genommen appelliert er an das Mitleid seiner Jünger. Doch die sind überfordert: Was will man mit 5 Broten und 2 Fischen bei so viel hungernden Menschen. Mehr ist aber nicht da. Das Gefühl kennen wir. Wir sehen Not und wir haben Mitleid, aber wir fühlen uns überfordert. Mit meinen Mitteln kann ich da sowieso nichts erreichen, denken wir. Jesu Botschaft: Fangt doch einfach an. Tut etwas. Und die Jünger lassen die Leute sich setzen und fangen an zu verteilen. Das Wenige, das sie haben: 5 Brote und 2 Fische. Das Wunder geschieht: das Wenige reicht für alle.

Das ist das Wunder des wahren Mitleides: Das Wenige, das ich geben kann, kann reichen: ein Gruß, eine Karte, ein Besuch, ein Hilfsangebot, eine Spende .... Dieses Wunder geschieht täglich. Niemand kann es erzwingen, aber jeder kann es erfahren - wenn er vor der Not des anderen nicht ausweicht sondern anfängt zu handeln. Es ist eine glückliche Erfahrung.

Foto und Text: Diakon Sebastian Nüßl

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